Freitag, 19. Februar 2010

Neuerwerbung

Zum Auftakt der diesjährigen vorösterlichen Fastenwochen habe ich mir als Einstieg in die Passionszeit gestern die im vegangenen Jahr neu erschienene Aufnahme von Georg Philipp Telemanns Brockes-Passion zugelegt.



Die Neueinspielung vom "Alte-Musik-Spezialisten" René Jacobs (die Aufnahme entstand im März 2008) hatte ich schon länger auf dem Kieker, zumal sie fast durchweg gute Kritiken erhalten hat und ich somit ziemlich (auch nach dem Anhören einiger Kostproben) neugierig auf dieses Werk geworden war.

Georg Philipp Telemann (1681-1767) hat in seinem langen Leben viele Passionsmusiken vertont und - vor allem während seiner Kantorenzeit in Hamburg - zur Aufführung gebracht. Besagte Brockes-Passion stammt aber noch aus seiner vorhergehenden Wirkungszeit in Frankfurt am Main und wude im Jahre 1716 uraufgeführt und aufgrund ihres großen Erfolges bald an vielen Orten nachgespielt.

Passionsmusiken benennt man für gewöhnlich nach dem Verfasser des gesungenen Textes, so dass es neben den nach den vier Evangelisten benannten Passionen vor allem auch zur Barockzeit Passionsdichtungen gibt, die von damals bekannten und gerne gelesenen Autoren stammen. Der bekannteste dieser Dichter dürfte zweifelsohne der Hamburger Barthold Hinrich Brockes (1680-1747) sein. Karl Wilhelm Ramler (1725-98) wäre hier noch als ein ebenfals mehrfach vertonter Passions-Dichter zu nennen. Sein "Der Tod Jesu" wurde von Telemann einige Jahre später ebenfalls in Musik gesetzt.

Barthold Hinrich Brockes' Passionsdichtung "Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende JESUS" wurde im Jahre 1712 veröffentlicht und innerhalb weniger Jahre von einigen der berühmtesten deutschen Komponisten der damaligen Zeit vertont, darunter neben Telemann auch von Georg Friedrich Händel und Reinhard Keiser.

Diese Dichtung ist - passend zur damaligen Zeit - an vielen Stellen an Drastik und Brutalität kaum zu überbieten: Der Leser (bzw. der Zuhörer) des Werkes sollte förmlich mitleiden und dadurch angerührt und geläutert werden. Solche hohen Ambitionen hatte man damals als Dichter und scheute dafür eben auch nicht die für uns heute oft so drastisch (und manchmal auch unfreiwillig komisch) erscheinende typische Barocksprache.

Telemann scheint die Textvorlage jedenfalls sehr inspiriert zu haben, denn er läuft zur Hochform auf und bietet eine sehr abwechslungsreiche, mal dramatische, mal lyrische Musik, die ausgesprochen farbig instrumentiert ist (vor allem durch den wechselnden Einsatz diverser Blasinstrumente). Für die damalige Uraufführung konnte er offenbar aber auch aus dem Vollen schöpfen, denn die besten Instrumentalisten, Sänger und Sängerinnen aus der ganzen Region standen zur Verfügung und das scheint ihn zusätzlich angespornt zu haben. Telemanns Vertonung ist - auch "dank" der für mich etwas gewöhnungsbedürftigen Textvorlage - streckenweise sehr opernhaft geraten. Mit der Kenntnis der berühmten Bach-Passionen im Hinterkopf (die eben so gar nicht opernhaft sind), empfinde ich manche Stellen (z. B. die Gethsemane-Szene) dieser Brockes-Passion als ein wenig albern...

René Jacobs musiziert in gewohnt schwungvoller, qualitativ hochwertiger Manier, es spielt die Akademie für Alte Musik Berlin und der formidable RIAS Kammerchor übernimmt den leider nicht so üppig wie bei Bachs Passionen ausfallenden Chorpart. Schade, denn gerade der Chor hat mir in dieser Aufnahme am besten gefallen.
Die Solisten sind allesamt erfrischend jung und stehen erst mehr oder weniger am Beginn ihrer vielversprechenden Karrieren.
Vor allem der Tenor Daniel Behle hat mir gut gefallen, aber auch dem Bariton Johannes Weisser, der den Christus-Part übernimmt, kann man gut zuhören. Die drei Solistinnen (zwei Soprane, ein Mezzosopran) sind auch ganz in Ordnung, manchmal empfand ich ihr Timbre als etwas zu schrill, aber das ist wohl Geschmackssache.

Einen großen Minuspunkt - der mich gerade bei einem sonst so gewissenhaften Musiker wie René Jacobs doch sehr erstaunt hat - fand ich die Tatsache, dass mehrere Arien aus "dramaturgischen Gründen" (so Jacobs) gestrichen wurden und dem Hörer somit vorenthalten bleiben. Für Aufführungen in Theater und Konzert kann ich solche gerne gemachten "Kürzungen aus dramaturgischen Gründen" ja gerade noch so nachvollziehen, aber eine CD-Aufnahme sollte, gerade wenn sie von jemandem wie René Jacobs stammt, doch bitteschön ohne solche Striche auskommen! Wenn ich irgendwelche Stücke aus "dramaturgischen Gründen" für unpassend oder als zu langatmig empfinde, dann kann ich ja selber jederzeit auf der CD einen Track weiterspringen! Aber das möchte ich dann gerne selber entscheiden können!

Ansonsten bleibt nur zu sagen, dass ich musikalisch sonst nichts weiter an der Aufnahme auszusetzen habe - im Vergleich zu den bekannten Bach-Passionen stört mich allerdings die ganze Art und Weise, wie die Passionsgeschichte dank Herrn Brockes hier so rüberkommt:
Allein schon die Tatsache, dass alles in netten Versen verfasst wurde, wirkt auf mich oft unfreiwillig komisch (muss sich die Passionsgeschichte unbedingt reimen??), dazu dann noch die schon erwähnte Drastik bei der Schilderung der ganzen Grausamkeiten, die Jesus zu erleiden hat - als Zuhörer der heutigen Zeit vermisse ich irgendwie den Ernst und die nüchterne Schlichtheit, die den Evangelisten-Texten der biblischen Autoren (wie sie eben z. B. in Bachs Matthäus-Passion vorgetragen werden) eigen ist. Das wirkt auf mich dadurch dann viel eindrücklicher als alle noch so sehr auf Sensation getrimmten Brutalitäten-Schilderungen bei Brockes und seinen Zeitgenossen.

Gut, für die Dichtung und die Art ihrer Vertonung kann René Jacobs nichts, aber zumindest hätte ich mir eine Einspielung ohne Striche von ihm sehr gewünscht.

Zum Schluss noch ein hübscher Kommentar, den ich in einer Rezension der Aufnahme von Claus Spahn im April 2009 in der ZEIT gefunden habe:

René Jacobs selbst hat die Passion in einem Interview mit dem umstrittenen Mel-Gibson-Kinofilm "The Passion of Christ" verglichen, der die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu in ein sadistisches Splattermovie kleidete. Manchmal scheint auch bei Telemann und Brockes der Spaß am Schmerz ebenso groß zu sein wie der Glaube an die daran geknüpfte Erlösungsbotschaft. Aber Telemann ist besser. So ein barocker Kirchenmusiker stellt Hollywood locker in den Schatten.

... und da hat der Mann wirklich Recht!! *grins*

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