Donnerstag, 25. März 2010

Zuletzt gehört...

Angeregt durch das gestrige Mittags-Orgelkonzert habe ich mir am Abend noch eine schon länger nicht mehr gehörte, ausgesprochen interessante CD reingezogen, die pünktlich zum Bach-Jahr 2000 erschienen war und mit originellen (und selten zu hörenden) Transkriptionen Bach'scher Kompositionen für großes Symphonie-Orchester aufwartet:
Unter der Leitung des Finnen Esa-Pekka Salonen spielt das Los Angeles Philharmonic Orchestra Bach-Bearbeitungen namhafter Komponisten (und Dirigenten) wie Sir Edward Elgar (1857-1934), Gustav Mahler (1860-1911), Arnold Schönberg (1874-1951), Anton Webern (1883-1945) und nicht zuletzt Leopold Stokowski (1882-1977).
Den Lebensdaten der illustren Herrenschar kann man bereits entnehmen, dass die eingespielten Stücke im frühen 20. Jahrhundert entstanden sind und sich dementsprechend an der für die damalige Zeit üblichen orchestralen Üppigkeit orientieren, was für Bach-Kompositionen ja eigentlich zunächst als eine etwas ungewöhnliche Voraussetzung erscheint (um es mal harmlos auszudrücken).
Nachdem sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein mehr oder weniger festes Repertoire für Symphonie-Orchester herausgebildet hatte (angefangen bei den Symphonien von Haydn, Mozart und Beethoven), war man um 1900 herum zum einen auf der Suche nach neuen Stücken, um das Orchester-Repertoire zu erweitern und zum anderen war das Interesse an der Musik aus der Zeit vor den Wiener Klassikern (also Barock und Rokoko) neu erwacht und gerade die beiden großen Barock-Komponisten Bach und Händel rückten hier naturgemäß in den Fokus des Interesses.
Gerade die Chormusik dieser beiden "alten Herren" war nie ganz aus dem Repertoire von Gesangsvereinigungen und Kirchenchören geraten (vor allem Händel in England) und auch Bachs Orgelmusik wurde damals durchaus in den Kirchen gespielt.
Aber im Konzertsaal tauchte Orchestermusik aus dem Barock so gut wie gar nicht auf, was nicht zuletzt an den gewaltigen Veränderungen lag, die 150 Jahre Musikgeschichte in puncto Orchesterbesetzung und Klangvorstellung zum damaligen Zeitpunkt bereits bewirkt hatten.
Wer spielte damals z. B. noch so etwas Exotisches wie ein Cembalo? Im 18. Jahrhundert gehörte ein solches Instrument jedoch zum unverzichtbaren Bestandteil eines jeden Orchesters.
Außerdem wurden die kleinen Orchesterbesetzungen des Barock und die wenigen dort verwandten Instrumente als zeitbedingte Beschränkungen angesehen - hinzu kam, dass man viele Instrumente der Barockzeit (wie z. B. die Gambe, die Oboe d'amore oder die Traversflöte) gar nicht mehr kannte.
Um dem Publikum des beginnenden 20. Jahrhunderts nun dennoch die Möglichkeit zu geben, sich wenigstens hin und wieder mal ein paar Musikstücke von Bach & Co. anhören zu können (deren Musik von vielen Komponisten der damaligen Zeit als durchaus hörenswert und wertvoll geschätzt wurde, die jedoch hauptsächlich nur in Expertenkreisen bekannt war), kamen besagte Bearbeitungen (Transkriptionen) von Barockmusik sehr in Mode:
Man arrangierte die alten Kompositionen für die Klangkörper, die einem zur Verfügung standen - Symphonieorchester, Streichensembles, Klavier - und machte sie somit wieder zugänglich und spielbar und rückte sie aus dem Umfeld rein wissenschaftlicher Musikhistorie wieder in den Fokus musikalischer Praxis.
Viele Menschen bekamen damals zum ersten Mal Musikstücke von Bach & Co. zu hören, die für uns heutzutage absolut gängige "Barock-Hits" und deren weltbekannte Melodien quasi allgegenwärtig sind!
Interessant wird diese ja sehr lobenswerte "barocke Wiederbelebung" aber vor allem durch die damalige Einstellung der alten Musizierpraxis gegenüber: Man betrachtete den Entwicklungsstand von barocken Instrumenten und der dadurch bedingten Orchestrierung als einen eher unfertigen, noch nicht abgeschlossenen und ging fest davon aus, dass Bach, Händel und deren Zeitgenossen die Errungenschaften moderner Instrumente sehr zu schätzen gewusst hätten, wenn sie sie denn bloß schon gekannt hätten!
Und so wie Mozart schon wenige Jahrzehnte nach Händels Tod zum Beispiel dessen Oratorium "Der Messias" für eine Wiener Liebhaberaufführung in bester Absicht mit zusätzlichen Instrumenten (unter anderem Klarinetten) "auffüllte" und Mendelssohn und Schumann im 19. Jahrhundert die Bach-Passionen für ihre Wiederaufführungen kürzten und bearbeiteten (aber allein die Tatsache, dass sie sich überhaupt für deren erneute Aufführung einsetzten, gebührt ihnen ein großer Verdienst!!), glaubte man auch Anfang des 20. Jahrhunderts, dass man Barockmusik vor einer (Wieder-) Aufführung erst in ein zeitgemäßes Gewand kleiden müsse, bevor man sie überhaupt einem Publikum präsentieren könne.
Man glaubte wirklich, den alten Musikstücken durch diese "Generalüberholungen" etwas Gutes zu tun und durchaus im Sinne der Komponisten zu handeln.
Immerhin wurden auf diese Art und Weise viele Musikstücke aus einem oft jahrzehntelangen Dornröschenschlaf erweckt - und das ist ja auch schon was…
Diese so bearbeiteten Stücke klingen für uns heutige Zuhörer oft wie eine bizarre Mischung aus spätromantischem Bombast mit barocken Melodien. Überraschend anders und manchmal auch ein bisschen unfreiwillig komisch - aber auf jeden Fall ein Hörerlebnis der ganz besonderen Art!
Gerade bei Bach entdeckten viele der damaligen Arrangeure auch das Potential, das in seinen zahlreichen und umfangreichen Orgelwerken lag: Hier konnte man sich bei der Orchestrierung dieser mehrstimmigen und harmonisch so überaus interessanten Kompositionen mal so richtig austoben und "aus dem Vollen schöpfen"! Man merkt diesen Bearbeitungen an, wie viel Freude ihre Schöpfer daran gehabt haben müssen, aus dem "kargen" Stimmmaterial ein wahres Klangfest für ein groß besetztes Symphonie-Orchester schaffen zu dürfen und dem Publikum so auch Werke zu Gehör bringen zu können, die es sonst vielleicht nie kennengelernt hätte! So überrascht es nicht, dass auch auf der oben erwähnten CD die meisten der eingespielten Bach-Stücke im Original Kompositionen für die Orgel sind: Fantasie und Fuge c-moll BWV 537, Toccata und Fuge d-moll BWV 565, Präludium und Fuge Es-Dur BWV 552, Fuge g-moll BWV 578.

Die Fantasie und Fuge c-moll BWV 537 hatte es gestern im Orgelkonzert gegeben und das hatte mich an die auf der CD enthaltene Orchesterversion von Edward Elgar erinnert - ein herrlich üppig-klangsattes Werk, luxuriös ausgestattet wie ein viktorianischer Salon mit vielen Blechbläsern, Pauken, Becken und weiterem Schlagwerk, einem breitem Streicherteppich und apart flirrenden Harfenklängen im Hintergrund! Elgar lässt nichts aus, was ein Symphonie-Orchester seiner Zeit zu bieten hat und das Ganze klingt erstaunlich stimmig - wenn man nicht weiß, dass es sich eigentlich um eine barocke Orgelkomposition handelt, könnte man das Stück auch für eine Originalkomposition eines Spätromantikers halten (gerade bei der langsamen Fantasie zu Beginn mit ihren schillernden Harmonien)!
Überhaupt zeigt sich bei all diesen Bearbeitungen, dass gerade Bachs Musik diese ganzen "Vergewohltätigungen" erstaunlich schadlos übersteht - irgendwie kann ihr nichts wirklich etwas anhaben, sie klingt einfach immer gut und verfehlt ihre Wirkung nicht! Wie vielseitig sie ist, zeigen ja unter anderem auch die zahllosen Jazz-Bearbeitungen, die so ab den 1950er Jahren zunehmend aufgekommen sind.
Gerade Leopold Stokowski hat sich durch seine zahlreichen Bach-Bearbeitungen auf diesem Gebiet sehr hervorgetan - seine "Bach-Musik" war bei den Besuchern seiner Symphonie-Konzerte sehr beliebt, während das üppige Klanggewand, das Stokowski den barocken Werken überstülpte, bei Kritikern und Musikwissenschaftlern eher skeptisch und ablehnend bewertet wurde; man qualifizierte solche Werke geringschätzig als "Bachowski" ab. Die bekannteste Stokowski-Bach-Transkription ist sicherlich die faszinierende Orchesterversion der bekannten und beliebten Toccata und Fuge d-moll BWV 565 (auch auf besagter CD eingespielt), die auch im legendären Walt Disney-Trickflilm "Fantasia" von 1940 von Stokowski und "seinem" Philadelphia Orchestra gespielt wird (die bekannteste Episode aus "Fantasia" ist wohl der Auftritt von Micky Maus als Zauberlehrling zur Musik von Paul Dukas).
Aus heutiger Sicht sieht man Stokowskis Bearbeitungen barocker Kompositionen weitaus weniger negativ sondern vielmehr als interessante und experimentelle Zeugnisse einer Zeit, die gerade erst begann, sich einen neuen Zugang zur Barockmusik zu verschaffen und dabei halt verschiedene Wege ausprobierte. Und dass Stokowski (aber auch die anderen oben erwähnten Komponisten) sein Handwerk als geschickter Arrangeur und Orchestrator brillant beherrschte, steht wohl außer Frage. So gesehen kann ich auch andere CDs sehr empfehlen, die weitere interessante Stokowski-Transkriptionen enthalten (die zweite CD enthält Bearbeitungen von Stücken von Händel, Vivaldi, Purcell und anderen):

Allein die Tatsache, dass es außer den hier vorgestellten noch einige weitere CD-Aufnahmen gibt, zeigt ja, dass diese Stokowski-Bearbeitungen auch heute durchaus ihr Publikum finden und auf Interesse stoßen.

Dass uns heute Barockmusik genauso selbstverständlich vertraut ist, wie die Musik von Mozart, Beethoven oder Brahms (deren Musik seit ihrer Entstehung - im Gegensatz zu den meisten Barockwerken - ohne Unterbrechung immer wieder aufgeführt wurde), hat schließlich seinen Ursprung in diesem geschilderten "Trend" zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Es verwundert eigentlich nur, dass damals noch niemand auf die Idee gekommen ist, Barockmusik so aufzuführen, wie sie im 17. und 18. Jahrhundert erklungen sein könnte und eben alte Instrumente und alte Spieltechniken aus dieser Zeit zu verwenden. Ich schiebe diese für viele damalige Musiker sicherlich vollkommen absurd erscheinende Idee mal auf den damals noch ungebrochenen Fortschrittsglauben, der frühere Entwicklungsstufen als unfertig und damit verbesserungswürdig betrachtete.
Die Idee einer "historisierenden Aufführungspraxis" hat sich erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts verbreitet und ist mit dem Entstehen der "Originalklangbewegung" seit den 1950er Jahren ein bis heute ungebrochenes "Erfolgsmodell" geworden, dass unsere Hörgewohnheiten von Alter Musik komplett über den Haufen geworfen hat. Es mag erstaunen, wenn man sich vor Augen (und Ohren) führt, dass die selbstverständliche Art, wie man heute zum Beispiel Bachs Brandenburgische Konzerte aufzuführen pflegt, noch vor 70 oder 80 Jahren völlig unbekannt war! Man kann den Einfluss dieser seither neugewonnnenen Erkenntnisse auf die Musizierpraxis für unser heutiges Bild barocker (und älterer) Musik nicht genug würdigen und schätzen!
Aber ab und an macht es halt auch mal Spaß, sich anzuhören, wie man die Musik von "Bach & Friends" vor gut 100 Jahren so aufzuführen pflegte :-)
Am wichtigsten finde jedoch ich die Tatsache, dass man Bachs Musik überhaupt spielte und für aufführenswert erachtete und sich künstlerisch mit ihr auseinandersetzen wollte - das ist doch irgendwie das größte Kompliment, das man einem Komponisten machen kann, oder nicht?

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