Montag, 26. November 2012

KLASSIKers Lieblingsstücke (V): Antonín Dvorák - Requiem

Heute nun zu einer Requiem-Vertonung, die mir persönlich ganz besonders am Herzen liegt – ich würde sogar so weit gehen und behaupten, dass ich, wenn ich denn unbedingt eine Wahl treffen müsste (was für ein Glück, dass man das in diesem Zusammenhang aber sowieso nicht muss!), mich sogar für dieses Requiem als meinen persönlichen Favoriten unter den musikalischen Totenmessen der Musikliteratur entscheiden würde:

Die Rede ist vom 1891 uraufgeführten Requiem b-moll op.89 von Antonín Dvorák (1841-1904) - so sehr ich auch die Requiem-Vertonungen beispielsweise von Mozart, Suppé und Verdi liebe (die kämen in meiner persönlichen Favoritenskala dann auf den Plätzen 2 bis 4), Dvoráks Version hat mich bislang noch am meisten gepackt und fasziniert, was sicher auch daran liegt, dass ich dieses Werk als Mitglied des 2. Tenors in meinem Chor intensiv einstudiert und mehrfach in Aufführungen mitgesungen habe (unter anderem in der Kölner Philharmonie, in der Bonner Beethovenhalle und im Altenberger Dom) – so etwas hinterlässt Spuren und persönliche Bindungen an ein solches Musikstück, die sich einfach nicht leugnen lassen. Und außerdem wollte ich mich jetzt auch einfach mal festlegen! :-)

Dvoráks Chormusik steht immer –und das sehr zu Unrecht!- im Schatten seiner Sinfonien und des übrigen Instrumentalwerks. Auch seine zahlreichen Opern fristen gerade hierzulande auch immer noch ein Nischendasein – wenigstens seine Märchenoper Rusalka (UA 1901) findet sich gelegentlich auf dem ein oder anderen Spielplan...

Im Rahmen des Dvorák-Jahres 2004 (anlässlich des 100. Todestages) hatte ich nun wie erwähnt das Glück, sowohl sein Stabat mater op 58 wie eben auch sein Requiem op. 89 einstudieren und im Konzert singen zu dürfen.

Und man lernt ein Werk eben am besten kennen (und lieben), wenn man die Gelegenheit hat, sich intensiv auch mit kleinen Details und Feinheiten beschäftigen zu können. Viele davon gehen beim bloßen (und eventuell gar nur einmaligen) Hören des Werkes einfach in ihrer schier unüberschaubaren Fülle unter – das ist schade, aber wohl nicht zu ändern.

Kurz zur Entstehung des Werkes:

Dvorák komponierte sein Requiem 1889/90 unmittelbar nach seiner 8. Sinfonie.
Es war ein Auftragswerk des Festivalkomitees des Birmingham-Chorfestivals, eines der schon damals größten und traditionsreichsten Chormusikfestivals der spätestens seit den Tagen Georg Friedrich Händels sehr chormusikbegeisterten Engländer.
Bei diesem Festival (aber auch in London und in anderen Städten Englands) hatte Dvorák bislang mit seinen Chorwerken (beginnend mit Aufführungen seines Stabat mater 1884/85) den größten Erfolg gehabt.
Er hatte für die Chorfestivals in Birmingham und Leeds daraufhin die Chorwerke Die Geisterbraut (1884) und Die heilige Ludmilla (1886) komponiert, die leider heute (zumindest wohl außerhalb Tschechiens) ähnlich seinen Opern ebenfalls einer fast totalen Vergessenheit anheimgefallen sind!

Diese beiden Chorwerke fanden zwar eine wohlwollende, aber nicht die enthusiastische Aufnahme wie zuvor das Stabat mater.
Dies kann an der böhmisch-folkloristischen Thematik oder der nicht ganz glücklichen Übertragung der tschechischen Originaltexte ins Englische gelegen haben, die mit dem Duktus der Musik wohl nicht so richtig harmonierte.

Dvorák wollte daher eigentlich lieber wieder zu lateinischen, allgemeingültigen Texten zurückkehren.
Man bot ihm vergeblich das Gedicht The dream of Gerontius zur Vertonung an (es wurde erst im Jahr 1900 durch Edward Elgar vertont); schließlich entschied sich Dvorak jedoch für den Vorschlag von Alfred Littleton vom Musikverlag Novello, ein Requiem zu vertonen.

Seine eher kammermusikalische Messe in D-Dur op. 86 aus dem Jahr 1887 erschien ihm –begreiflicherweise- kein geeignetes Werk für den Rahmen eines solchen Chorfestivals zu sein, das nach abendfüllenden, reich orchestrierten Stücke verlangte.

Dvorák kannte die Requiem-Vertonungen von Verdi (1874) und Brahms’ eigenwilliges Deutsches Requiem (UA 1869) und hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, sich ebenfalls mit der Textvorlage der lateinischen Missa pro defunctis kompositorisch auseinanderzusetzen.

Mit ersten Skizzen begann Dvorák dann im Jahre 1889; auch während der im Jahr 1890 stattfindenden Reisen und Gastkonzerte arbeitete er an seiner Komposition. So notierte er über der Skizze zum Lacrimosa beispielsweise geschrieben in Köln am Rhein auf der Reise nach London.

Im Sommer vollendete er das Werk in seinem Landhaus Vysoká. Es folgten noch die Reinschrift und einige Korrekturen in den folgenden Monaten.

Die Uraufführung dieses Requiem fand dann am 9. Oktober 1891 in Birmingham unter Dvoráks Leitung statt – es war ein überwältigender Erfolg, dem sich zahlreiche weitere äußerst erfolgreiche Aufführungen auf dem europäischen Festland (und den USA!) anschlossen, nicht zuletzt auch in Wien (1901), wo Dvoráks Werke zuvor eher weniger Erfolg hatten.

Dvorák teilt die 9 Teile des Requiem-Textes wie folgt in 13 einzelne Sätze auf:

-Introitus: Requiem & Kyrie eleison
-Graduale: Requiem aeternam
-Sequenz: Dies irae
--Tuba mirum
--Quid sum miser
--Recordare
--Confutatis
--Lacrimosa
-Offertorium: Domine Jesu Christe
--Hostias
-Sanctus
-Pie Jesu
-Agnus Dei (& Communio)

Wie man sieht, hat sich Dvorák gerade in der Sequenz, also dem textlich umfangreichsten Teil der Missa pro defunctis, für eine recht traditionelle Aufteilung in einzelne Abschnitte entschieden, lediglich das oft als separater Satz komponierte Rex tremendae fehlt – es ist bei Dvorák Teil des Quid sum miser. Dvorák hat (anders als beispielsweise Suppé oder Verdi) darauf verzichtet, das eigentlich sowieso nicht nur Missa pro defunctis gehörende Libera me als letzten Satz seines Requiem zu vertonen.
Anders als sonst häufig gibt es bei Dvorák auch keinen eigenen Satz für das Benedictus - es ist hier ein Teil des Sanctus, so wie es liturgisch eigentlich auch korrekt ist, bevor im 18. Jahrhundert gerade dieser Teil in Messkompositionen gern als besonders ausdrucksvoller und inniger Satz fast durchweg vom vorangehenden Sanctus abgetrennt wurde (siehe z. B. Messvertonungen von Haydn, Mozart und Beethoven).
Dafür gibt es bei Dvorák quasi als Ersatz als vorletzten Satz seines Requiem ein Pie Jesu, (ein Satz mit Worten aus dem Lacrimosa) – ein ab Ende des 19. Jahrhunderts (und auch im 20. Jahrhundert) gern vertonter Teil des Requiem-Textes, der nicht nur hier bei Dvoràk gern als ruhig-melodiöser, besinnlich-andachtsvoller Bittgesang ausgestaltet wird, man denke beispielsweise nur an die wunderschönen Pie Jesu-Vertonungen in den Totenmessen von Gabriel Fauré, Andrew Lloyd Webber oder John Rutter!

Am meisten dürfte in Dvoráks Satzaufteilung jedoch die Tatsache überraschen, dass er sich als einer der wenigen Komponisten des 18. und 19. Jahrhunderts das als zweiter Satz erklingende Graduale vorgenommen hat. Die beiden Teile der Liturgie der lateinischen Totenmesse, Graduale und Tractus, sind während der Renaissance noch regelmäßig, ab der Barockzeit dann immer seltener und danach eigentlich gar nicht mehr (warum auch immer) vertont worden. Während Dvorák auch auf den Tractus verzichtet, so hat er doch immerhin das Graduale vertont und das ist schon eine Besonderheit bei diesem Requiem aus dem späten 19. Jahrhundert.

Dvorak wählte für seine Totenmesse die Tonart b-moll. Chopins Trauermarsch ("Marche funèbre") aus der Klaviersonate Nr. 2 in b-moll op. 35 dürfte das wohl bekannteste Stück "Trauermusik" sein, das auch in dieser Tonart steht.

Eine Aufführung von Dvoráks Requiems dauert ca. 95 Minuten – es handelt sich damit um das umfangreichste Chorwerk dieses Komponisten.

Da es für einen Konzertsaal –und nicht für die Kirche (für eine liturgische Totenmesse ist es schlicht zu umfangreich)- gedacht war, besitzt das Werk eine allgemeingültige, nicht unbedingt ausschließlich an die katholische Tradition gebundene Aussage – ähnlich vielleicht wie die vom Protestanten Bach komponierte (und dem katholischen Text folgende) h-moll-Messe. Der geübte und versierte Symphoniker Dvorák macht sich in der gekonnten motivischen Verzahnung der einzelnen Sätze bemerkbar.

Ich muss gestehen: Mir persönlich war dieses Requiem – mit den Proben hierzu begannen wir parallel zur Einstudierung des Stabat mater - zunächst etwas „suspekt“.
Es erschien mir viel „berechnender“ und konstruierter als Dvoráks leidenschaftlich-spontanes und ja auch aus tiefem persönlichen Leid heraus entstandenes Stabat mater.
Kein Wunder – es handelt sich ja beim Requiem auch um ein Auftragswerk, das diesmal ohne biographischen Hintergrund (also kein Todesfall im Familien- oder Freundeskreis) entstand und in dem eben der kompositorische Aspekt, die kunstvolle Verarbeitung symphonisch-thematischer Gedanken (insbesondere eines zentralen „Leitmotivs“) eine größere Rolle spielt – Dvorak wollte sich eben als Meister seines Faches von seiner besten Seite zeigen!

Dvorák hat für dieses Auftragswerk ganz selbstbewusst eine Art Summe seines damaligen Könnens gezogen und viele raffinierte "Zutaten" in die Komposition hineingepackt:

So hat er sein Requiem quasi unter das Motto eines Leitmotivs, einer Idée fixe gestellt.
Das sich in mannigfacher (auch rhythmischer) Variation durch das gesamte Stück ziehende Requiem-Motiv taucht nicht nur in den Orchester- sondern immer wieder auch in den Gesangsstimmen auf und gibt dem Ganzen einen „roten Faden“.

Die äußerst konsequente Verwendung dieses charakteristischen Motivs ist im Sinne einer für Dvorák nicht untypischen thematischen Vereinheitlichung ein Beleg für die symphonische Konzeption dieses Werkes – auch wenn man das Motiv schnell im Ohr hat, wird es nie langweilig, ihm im Verlauf des Requiem immer wieder zu begegnen, zu abwechslungsreich und oft überraschend sind die neuerlichen „Treffpunkte“. Dvorak hat das wirklich ganz meisterhaft gelöst.

Der Musikwissenschaftler Peter Gatty schreibt sehr treffend (und wie ich finde, auch sehr poetisch) hierzu:
Die motivische Keimzelle des ganzen Stücks wird – ähnlich wie bei Wagners Tristan – in den ersten 3 bis 4 Takten vorgestellt, eine thematische Figur, die sich in chromatischen Schritten schmerzlich um den Dominantton f windet und gleichsam eine Frage stellt, die uralte, weltbewegende Frage nach den letzten Dingen des Lebens und Sterbens.
Dvorak soll dieses auch für mich wie eine Frage wirkende Requiem-Motiv aus einem Thema von Johann Sebastian Bach, dem engschrittigen Fugenthema des 2. Kyrie aus der h-moll-Messe, abgeleitet haben (das müsste ich an der entsprechenden Stelle aber nochmal nachhören).

Dies wäre meines Erachtens ein Beleg für die überkonfessionelle Aussage der Komposition, die einen allgemeingültigen Standpunkt zum alle Menschen bewegenden Themenkreis Tod, Verlust, Trauer, Trost und ewiges Leben einnehmen will und sich nicht an irgendwelche konfessionellen Schranken gebunden fühlt (immerhin wurde das lateinische Requiem ja auch für das anglikanische England komponiert).

Ich hätte wirklich nie gedacht, dass man einem Werk derart anmerken kann, ob es eher absichtsvoll "geplant" und "konstruiert" wurde (das ist jetzt gar nicht negativ gemeint), oder ob es mehr aus persönlichem Bedürfnis heraus, "aus dem Gefühl" geschrieben wurde - gerade beim direkten Vergleich der beiden genannten Dvorák-Chorwerke ist das wunderbar zu vergleichen - und zwar nicht nur vom kompositionstechnischen Hintergrund, sondern eben auch vom "gefühlten" Sing- und Hörerlebnis her - vielen MitsängerInnen im Chor ging es nämlich ähnlich wie mir: Das Stabat mater noch im Ohr habend, wollte sich uns das Requiem zunächst so gar nicht richtig in seiner vollen Schönheit erschließen…

Aber es kam - etwas zögernder vielleicht, aber unaufhaltsam. Denn je mehr wir im Chor an dem Werk herumprobiert haben, desto lieber habe ich es gesungen: Einfach toll, welch große Breite musikalischer Ausdrucksmöglichkeiten und Stimmungen die einzelnen Sätze umschließen. Und gerade für den Chor ist das Werk sehr dankbar: Außer in der Nr. 6 (Recordare) ist der Chor an allen übrigen 12 Sätzen maßgeblich beteiligt!

Als wir dann endlich aufführungsreif waren, mochte ich zwischenzeitlich das Requiem schon lieber als Dvoráks Stabat mater – aber das geht mir mit (fast) allen Chorwerken so, die wir gerade probieren...

Beide Werke sind große Klasse – überquellend vor wunderbaren Melodien und Stimmungen und jedem Chormusik- und natürlich Dvorák-Freund daher nur wärmstens zu empfehlen! Am besten natürlich live!!!

Nun aber noch ein paar persönliche An- und Bemerkungen zu den 13 Sätzen dieser wunderbaren Totenmesse:

Nr. 1 Requiem aeternam
Pianissimo in den Streichern erklingt in den ersten Takten also das schon erwähnte Requiem-Motiv (zu Beginn sind es die Töne f-ges-e-f-f), bevor der Chor wenig später requiemüblich ebenfalls düster und im pianissimo einsetzt.
Wenn die „Requiem“-Rufe der einzelnen Stimmen bewegter werden, ist dann auch der erste dynamische Höhepunkt erreicht:
Im fortissimo und unisono intoniert der Chor „Te decet hymnus“ in dreimaliger Steigerung, bevor mit dem Tenor der erste Solist zum Einsatz kommt, die anderen Solisten stellen sich ebenfalls kurz darauf erstmalig vor.
Gegen Ende des ersten Satzes erfolgt dann die erste Überraschung: Eher beiläufig und leise singen die Chorbässe zur Melodie des Requiem-Motivs das „Kyrie eleison“, dem die anderen Stimmen mit dem „Christe eleison“ und dem abschließenden zweiten „Kyrie eleison“ folgen.
Das Ganze erfolgt in aller Knappheit und ist damit bedeutend kürzer als beispielsweise das Kyrie im Mozart-Requiem.
Das überrascht schon, ist doch Dvoráks Requiem vom Gesamtumfang her fast doppelt so lang wie Mozarts Totenmesse – beim Kyrie fasst Dvorák sich aber auffallend kurz.
Es klingt ganz anders als Mozarts gewaltiges, fast schon trotzig wirkendes Kyrie-Fugenthema:
Zerknirscht, ganz leise und demütig bittet der Chor – zuletzt gar a cappella - um Erbarmen – eine sehr sinnfällige klangliche Ausdeutung des Textes, die man in dieser Form aber nicht so häufig antrifft.

Nr. 2 Graduale
Während bei den meisten Requiem-Vertonungen das Kyrie der 2. Satz ist, hat Dvorák ungewöhnlicherweise hier ein Graduale eingefügt – weder bei Verdi noch bei Mozart, Berlioz oder Suppé gibt es diesen Teil.
Es ist hauptsächlich ein lyrisch-sehnsüchtiges Sopransolo, teilweise vom Damenchor unterbrochen. Ganz am Ende des Satzes bekommt der Herrenchor den ersten seiner in diesem Werk noch zahlreich auftretenden a-cappella-Einsätze:
Pianissimo und sehr geheimnisvoll intonieren die tiefen Stimmen nochmals die Worte „Requiem aeternam“ eine Gänsehautstelle!

Nr. 3 Dies irae
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde es nicht unüblich, die drastische, auf die Schrecken des Jüngsten Gerichts hindeutende Sequenz Dies irae auszusparen (z. B. in den Requien von Fauré, Duruflé, u. a.), um den Totenmessen einen einheitlichen, eher meditativ-tröstlichen Charakter zu verleihen.
Dvorák hingegen verzichtet nicht auf diese Textteile, die ja viele Komponisten, allen voran Berlioz und Verdi, zu spektakulären Apokalypse-Vertonungen inspiriert haben.
Nun, Dvorák wählt einen „Mittelweg“ – und meidet die Drastik eines Berlioz oder Verdis (die auch kaum zu übertreffen wären) – sein Requiem trägt auch in Teilen wie diesen eher lyrische Züge:
Der Chor intoniert das „Dies irae“ –nach einem einleitenden tief und bedrohlich klingenden Wirbeln in den Bässen- rhythmisch ganz streng unisono.
Es klingt – wenn der Dirigent den 6er-Rhythmus denn strikt einhält – wie ein bizarrer Schreittanz oder –marsch (die Tempobezeichnung lautet denn auch Allegro impetuoso [Alla marcia]), eben wie eine Art "Totentanz":
Unerbittlich, drohend und immer wieder durchsetzt von schreckensrufartigen Ausbrüchen einzelner Stimmen. Ganz anders in der Wirkung als beispielsweise bei Verdi aber nicht minder beeindruckend!

Nr. 4 Tuba mirum
Erwartungsgemäß eröffnet Dvorák den Satz mit einem Blasinstrument, das zum Jüngsten Gericht ruft – allerdings ist es hier eine Trompete (während man von der berühmten Mozart-Parallelstelle eher die Posaune erwartet hätte).
Doch das Ganze klingt nicht heroisch und majestätisch – es ist das fragende Requiem-Motiv, das hier erneut an prominenter Stelle zum Einsatz kommt.
Solo-Alt, Bass und Tenor tragen den weiteren Text vor, immer wieder unterbrochen vom düster und verzweifelt klingenden Chor.
Zur abschließenden Steigerung des ganzen Abschnitts wiederholt Dvorák dann nochmals den Dies irae-Totenmarsch aus der Nr. 3, der allerdings an dieser Stelle nochmals im Ausdruck und in der Dynamik gesteigert werden sollte – die Orchesterbegleitung ist hier ebenfalls wesentlich dichter und bewegter als beim ersten Dies irae“.
In dieser Wiederholung "dreht" Dvorák dann nochmal am Hebel "Dramatik" und verschärft die Wirkung und Drastik im Gegensatz zum ersten Dies irae - er schreibt nun u. a. auch den zusätzlichen Einsatz von Orgel und (Röhren-)Glocken vor (allerdings wohl ad libitum, da nicht in allen Aufnahmen welche zu hören sind).
Kurz vor Ende dieses Satzes herrscht dann ein Höllenlärm:
Der Chor deklamiert fortissimo erneut die Worte "Tuba mirum spargens sonum", dazu das wild bewegte volle Orchester (plus Orgel) und eben die über alles hinwegtönenden, kraftvoll geläuteten Glocken "des Jüngsten Gerichts" - eine Stelle, die mir jedesmal Gänsehaut bereitet hat!!
Und –was für ein Gegensatz- nach zwei abschließenden Unisono-Takten des vollen Orchesters kehrt von einer Sekunde auf die andere plötzlich Totenstille ein und der Herrenchor singt jetzt abrupt im pianissimo eine weitere a-cappella-Stelle, worauf der Satz mit einem kurzen leisen Nachspiel fast im Nichts endet – was für ein Wahnsinns-Effekt und was für ein Gegensatz zum kurz vorher so abrupt beendeten Forte-Fortissimo!! Schon wieder Gänsehaut...

Nr. 5 Quid sum miser
Ungewöhnlicherweise beginnt Dvorák den nächsten Satz an dieser Textstelle – üblicherweise folgt auf das Tuba mirum das Rex tremendae.
Dvorák geht aber –wie schon erwähnt- eher lyrisch vor und beginnt den Satz ganz zart und ratlos im Tonfall mit den Chorsopranen.
Relativ unvermittelt in diese ratlose Atmosphäre (wiederum eine sehr schöne Textausdeutung!) bricht das in diesen Satz integrierte Rex tremendae herein – ganz traditionell in majestätisch-schreckensvoller Anrufungsform („Rex!“) gehalten. Das abschließende „Salva me“ klingt dagegen wieder ruhig und bittend.

Nr. 6 Recordare
Der einzige Satz des ganzen Werks, in dem der Chor mal Pause hat!
Das Solistenquartett hat hier eine dankbare und äußerst klangschöne Aufgabe zu bewältigen – in diesem Satz klingt Dvoráks Musik ganz typisch „böhmisch“, sowohl vom oft synkopierten Rhythmus als auch von der wunderbar "holzbläserlastigen" Instrumentierung her.

Nr. 7 Confutatis
Das Confutatis klingt wie der Rex tremendae-Teil traditioneller – vor allem der Gegensatz zwischen den bedrohlichen „Confutatis“-Rufen und dem lyrisch klingenden „Voca me!“ ist in ähnlicher Form (z. B. auch von Mozart) gern in dieser Art vertont worden. Der Rhythmus zu Beginn des Satzes ist ein unerbittlich treibendes, sehr ins Ohr gehendes Motiv.

Nr. 8 Lacrimosa
Das auf der Durchreise in Köln skizzierte Lacrimosa beginnt mit dissonanten und schmerzlichen „Lacrimosa“-Rufen – sehr wirkungsvoll ist der im pianissimo vorgetragene kurze „Pie Jesu Domine“-Teil – ein kurzes Innehalten vor den abschließenden, sehr eindrücklichen „Amen“-Rufen, mit denen der 1. Teil endet.

Nr. 9 Offertorium
Mit Beginn des 2. Teils des Requiem ändert sich die Atmosphäre komplett: Nach all dem Schrecken und der Angst beginnt nun der tröstliche Teil des Werks – die Holzbläser intonieren ein friedvoll klingendes Andante, dem kurz darauf erstmalig auch die Harfe beigefügt wird – ein wirkungsvoller 1. Einsatz an dieser Stelle für dieses Instrument!
Das ganze Domine Jesu Christe ist sehr würdevoll vom Ausdruck, voller Zuversicht, stellenweise geradezu hymnisch.
Sehr charakteristisch das mehrfach wiederholte, rhythmisch markante „Libera animas“-Motiv (später auch als „Libera eas“).
Zum Abschluss des Satzes zeigt Dvorák, dass er auch ein Meister der Fugentechnik ist (um 1890 ist die Fuge ja nun wirklich kein besonders übliches Stilmittel mehr!):
Traditionell ist der Textteil „Quam olim Abrahae“ auch bei ihm als ausgedehnte Fuge gestaltet (die Fuge benötigt immerhin vom Umfang her ein Drittel des Satzes!).
Im frischen, fröhlich-zuversichtlichen Allegro-Tempo intoniert zuerst der Chortenor das Fugenthema – hierbei handelt es sich um ein altes böhmisches Kirchenlied aus dem 15. Jahrhundert, dass um 1890 auch noch in den Gottesdiensten in Dvoráks Heimat gesungen wurde und dessen Melodie daher zumindest seinen Landsleuten als „typisch böhmisch“ durchaus bekannt gewesen sein müsste.
Die Fuge ist eine echte Herausforderung für den Chor, wir haben ziemlich zeitintensiv daran herumprobieren müssen.
Aber das Ergebnis lohnt: Wenn es dann (endlich) richtig „läuft“ ist diese Fuge ein echter Ohrwurm – sehr mitreißend und unter raffinierter Ausnutzung sämtlicher satztechnischer Kunstgriffe mit einer grandiosen Steigerung zum Schluss hin ist sie ein echter Höhepunkt!

Nr. 10 Hostias
Die Stimmung wechselt erneut und wird grüblerischer, nachdenklicher, die charakteristischen punktierten Rhythmen einschließlich der „Libera eas“-Rufe aus dem vorangegangenen Satz tauchen aber auch hier wieder auf.
Das Besondere an diesem Satz sind jedoch die beiden längeren a-cappella-Stellen für den vierfach geteilten Herrenchor (“Fac eas, Domine“):
Sehr eindrücklich, harmonisch raffiniert – und ziemlich knifflig in der Ausführung. Lohnt sich aber auf jeden Fall, denn gerade diese beiden Passagen klingen sehr innig und flehentlich. Und a-cappella-Stellen lassen den Zuhörer unwillkürlich immer besonders aufhorchen!
Und weil es so schön war (und die Arbeit bei der Einstudierung sich ja auch lohnen soll) – wird im Anschluss an diesen Teil die komplette „Abraham-Fuge“ aus der Nr. 9 wiederholt!

Nr. 11 Sanctus
Anders als der üblicherweise zu erwartende Sanctus-Jubel, beginnen die Solisten zunächst eher mit etwas gedämpften, weihevollen Lobrufen, bevor der Chor etwas später dann doch unisono im fortissimo mit „klassischen“, blockhaft-hymnischen Sanctus-Rufen einsetzt.
Nach dem kurzen Hosanna-Teil überrascht Dvorák mit einem bemerkenswert kurz gefassten Benedictus.
Überraschend deshalb, weil – wie erwähnt - gerade dieser Textteil für gewöhnlich von vielen Komponisten sehr ausgreifend und sehr anrührend vertont wurde (z. B. in Beethovens Missa solemnis) und man im Rahmen der großen Anlage dieses Requiems eigentlich ähnliches erwartet hätte.
Aber wie schon im Kyrie eleison beschränkt sich Dvorák hier auf eine vergleichsweise knappe Vertonung, die gleichwohl sehr schwärmerisch und zuversichtlich (und darüber hinaus harmonisch äußerst komplex) daherkommt. Ein knappes weiteres Hosanna beendet kräftig im fortissimo den Satz.

Nr. 12 Pie Jesu
Dieser Textteil (aus dem Lacrimosa) findet sich weder in den Requien von Mozart, Berlioz, Suppé oder Verdi an dieser Stelle zwischen Sanctus und Agnus Dei.
Dvorák benutzt ihn, um kurz vor Schluss noch mal eine ganz verinnerlichte „Ruhepause“ einzulegen:
Nach kurzem Vorspiel (Poco adagio) folgt ein weiterer a-cappella-Satz für den vierfach geteilten Herrenchor und die Altistinnen, die wie ein schlichtes Volkslied die Worte „Pie Jesu, Domine“ intonieren.
Zeitweise werden zwar die Stimmen von der Orgel dezent (und mit tiefen, liegenden Tönen) begleitet, dennoch handelt es sich hierbei um die längste a-cappella-Passage des ganzen Werkes, die wiederum ziemlich anspruchsvolle harmonische Entwicklungen aufweist (auch das Requiem-Motiv findet erneut mehrfach Verwendung).
Dass wir auch diesen Satz ziemlich intensiv "beackern" mussten, bevor die Intonation hingehauen hat (Anschluss-Stellen!!), brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen... Im Mittelteil des Satzes dürfen dann die Sopran-, Alt- und Tenorsolisten ebenfalls ihre a-cappella-Fähigkeit unter Beweis stellen, bevor erneut der Chor (wiederum ohne den Chorsopran) den Satz a-cappella beschließt.

Nr. 13 Agnus Dei
Der erste Teil des Agnus Dei mit seinen in unterschiedlichen Stimmkombinationen wiedergegebenen “Agnus Die“-Rufen erinnert mich vom Ausdruck her sehr an den Beginn des Agnus Dei in Beethovens Missa solemnis, wo der gleiche, über längere Passagen sich aufbauende, andächtig-bittende, aber zugleich auch reumütig-flehende Grundton vorherrscht.
Dann intoniert der Solo-Sopran die Stelle „Lux aeterna luceat eis“ und plötzlich ändert sich die Stimmung, es ist, als ob das ewige Licht bereits erstrahlen würde:
In wenigen Takten, in denen Chor und Solisten unisono geführt werden, erreicht Dvorák eine gewaltige, monumentale Steigerung, die bis zum forte-fortissimo reicht und sich dann ebenso abrupt in zügigerem Tempo in die „Quia pius es“-Rufe entlädt.
Doch auch diese Episode währt nicht lange und sehr schnell drosselt Dvorák das Tempo wieder und kehrt zur Stimmung des Anfangs zurück.
Der Tonfall wird immer verinnerlichter, der Chor erhält eine letzte kleine a-cappella-Stelle, die von einer dumpfen Pauke begleitet wird.
Und wenn dann –fast flüsternd- zum letzten Mal die Worte „Et lux perpetua luceat eis“ mehr rezitiert als gesungen werden, schwingt sich das Orchester im kurzen Nachspiel noch einmal zum forte auf und intoniert abschließend das Requiem-Motiv, das ja auch ganz am Beginn des Werkes stand - das Motiv verebbt und im pianissimo endet das Requiem in b-moll.
Was für ein Kreis schließt sich da – es ist, als würde ganz am Ende ein gewaltiges Buch zugeschlagen:
Ein Buch, in dem es um dieses Motiv ging, das in unzähligen Veränderungen und Situationen den Hörer ständig begleitet hat und das am Ende dann einfach und friedlich ausschwingt – noch so eine Gänsehautstelle!
Von vorne bis hinten planvoll durchdacht und bis zum Rand gefüllt mit herrlichen Melodien und abwechslungsreichen Klangkombinationen - einfach fantastisch! Was will man mehr...?

Das Ganze überzeugt mich bei Weitem mehr als Berlioz ebenfalls monumentales Requiem, bei dem er sich meiner Meinung nach aber mit den großen Klangorgien bei der Umsetzung des Jüngsten Gerichts im Tuba mirum etwas verzettelt hat, denn ein Requiem besteht nicht nur aus der Sequenz und es gereicht einer Vertonung nicht unbedingt zum Vorteil, wenn alles (ausführende Kräfte wie Publikumsinteresse) nur auf diesen Teil ausgerichtet ist! Durch den Verzicht auf allzu spektakuläre Effekte im Dies irae und den folgenden Sätzen hat Dvorák kluge Selbstbeschränkung bewiesen und dem Requiem als Ganzem damit eine wesentlich geschlossenere Gesamtstruktur und –wirkung verliehen.

Ich habe einige Aufnahmen dieser großen Missa pro defunctis, die meisten davon haben schöne Momente, offenbaren leider aber auch einige Schwächen:

Die älteste Aufnahme, die ich vom Dvorák-Requiem besitze, entstand immerhin schon Anfang 1959 (!) in Prag: Es singt der Tschechische Sängerchor, begleitet von der Tschechischen Philharmonie unter der Leitung von Karel Ancerl. Bei dieser Aufnahme merkt man, dass sie noch aus den Kindertagen der Stereophonie stammt – gerade an den lauteren Stellen, wo Chor und Orchester richtig „aufdrehen“, stößt die damalige Aufzeichnungstechnik für mein Empfinden hörbar an ihre Grenzen und das Ganze wirkt etwas flach und nicht mehr so differenziert. Dafür hat die Aufnahme gerade an den ruhigeren Stellen aber auch ihre schönen und sehr gelungenen Momente.

Im Jahr 1968 entstand in London eine Einspielung mit den Ambrosian Singers und dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von István Kertész. Auch hier überzeugt mich das Klangbild an den turbulenteren Stellen nicht immer (und auch sonst klingt das Ganze irritierendweise mitunter, als ob sämtliche Ausführende lediglich in einem kleinen Raum beieianderstehen), auch wirkt der Chorklang ab und an nicht ganz homogen und streckenweise auch ein bisschen "hemdsärmelig" und nicht besonders elegant aufeinander abgestimmt – dafür hört man hier im Tuba mirum zur Abwechslung mal sehr schön die Röhrenglocken läuten – ein toller Effekt, den es leider nicht in jeder Einspielung zu erleben gibt. Die Solisten dieser Aufnahme sind gut, vielleicht teilweise etwas zu opernhaft im Ausdruck, was nicht ganz so optimal zu diesem Requiem passt.

1981 entstand in Paris die Aufnahme mit dem Nouvel Orchestre Philharmonique et Choeurs de Radio France unter der Leitung von Armin Jordan. Eine solide Aufnahme, die man gut anhören kann, bei der mir aber entschieden die Leidenschaft und Dramatik fehlt - alles wirkt hier brav und ausgesprochen korrekt musiziert, aber eben auch nicht mehr. Schade eigentlich!

Mein Favorit ist und bleibt allerdings die 1984 wiederum in Prag entstandene Aufnahme mit dem Tschechischen Philharmonischen Chor und Orchester unter der Leitung von Wolfgang Sawallisch: Hier stimmt für meinen Geschmack eigentlich (fast) alles – man merkt Chor und Orchester die Leidenschaft und Hingabe für dieses Meisterwerk ihres großen Landsmannes an, die Solisten überzeugen mich auch und auch das Klangbild dieser Aufnahme lässt eigentlich keine Wünsche offen. Einziger Wermutstropfen an dieser Einspielung ist lediglich das teilweise arg langsame Tempo, was mich vor allem in den dramatischen Sätzen der Sequenz doch ziemlich enttäuscht: Ein guter Teil der Wirkung geht verloren, wenn man derart durch Sätze wie das Dies irae oder das Confutatis schleicht, wie es Sawallisch hier tut! Dass er nicht grundsätzlich langsamer unterwegs ist als andere Kollegen, zeigt sich z. B. in der Quam olim Abrahae-Fuge, wo er ein flottes Tempo anschlägt, das sich nicht von dem der anderen hier vorgestellten Einspielungen unterscheidet.

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