Donnerstag, 21. März 2013

Musik zur Passionszeit (III) - Bachs Lukas-Passion (BWV 246): Komponist unbekannt?

Nachdem ich im vergangenen Jahr ein paar unbekanntere Passionsmusiken aus dem 19. Jahrhundert vorgestellt habe, möchte ich mich in diesem Jahr dem wohl berühmtesten und beliebtesten Komponisten von Passionsmusiken zuwenden - Johann Sebastian Bach (1685-1750), an den man wohl automatisch zuallererst denkt, wenn Stichwörter wie Matthäus- oder Johannes-Passion fallen und dem nicht zuletzt wegen dieser beiden Kompositionen der griffige, aber doch auch etwas fragwürdige Titel als „Fünfter Evangelist“ zugefallen ist (der bescheidene und gottesfürchtige Bach wäre – so glaube ich – entsetzt, wenn er von dieser Bezeichnung seiner Person erfahren hätte!).

Da mein Herz aber nun einmal auch für die etwas im Schatten berühmter Werke stehenden Kompositionen (und Komponisten) schlägt, soll es hier diesmal eben nicht um die beiden allbekannten, oben erwähnten Kompositionen des berühmten Thomaskantors gehen, sondern um zwei Passionsmusiken, die im Bach-Werke-Verzeichnis (BWV) zwar eigene Nummern verliehen bekommen haben, aufgrund verschiedener Umstände jedoch bei Weitem nicht so bekannt sind und entsprechend häufig aufgeführt werden wie die 1724 erstmals in Leipzig erklungene Johannes-Passion (BWV 245) und die 1727 ebenda entstandene Matthäus-Passion (BWV 244): Die Markus-Passion (BWV 247) und heute zunächst die Lukas-Passion (BWV 246).

In seiner Funktion als Leipziger Thomaskantor hatte Bach neben den sonn- und feiertäglichen Kantatendarbietungen auch in jedem Jahr zum Karfreitag eine Passionsmusik aufzuführen, die abwechselnd in der Thomas- und der Nikolaikirche gegeben wurde. Damaligem Usus folgend war es üblich, dass diese Musiken auf einem der Passionsberichte der vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas oder Johannes basierten, wobei die Erzählung der biblischen Geschichte durch Choräle und betrachtende Arien angereichert, vertieft und kommentiert und vom Thomaskantor im Idealfall Jahr für Jahr neu vertont wurde.

Nachdem Bach im Frühsommer 1723 sein Amt als Thomaskantor angetreten hatte, bildete die zu Karfreitag 1724 in der Nikolaikirche uraufgeführte Johannes-Passion sein Leipziger „Passionsmusikendebüt“. Die Johannes-Passion führte Bach während seiner bis zu seinem Tode im Jahr 1750 währenden Leipziger Dienstzeit mehrfach auf, wobei er mehrfach Arien und Chorsätze austauschte und sich so insgesamt 4 Fassungen dieser Passionsmusik (in einer heute mehr oder weniger aufführbaren Form) rekonstruieren lassen.

Für viele Karfreitagstermine, die in die 27-jährige Leipziger Amtszeit Bachs fallen, ist übrigens nicht mehr rekonstruierbar, welche Passionsmusik dort tatsächlich erklungen ist.

Fest steht in jedem Fall, dass Bach nicht in jedem Jahr eine eigenhändig neu komponierte Passionsmusik verfasste; er führte in den Folgejahren durchaus auch schon einmal Passionen von Kollegen auf (was ja durchaus legitim war), so z. B. im Jahr 1726 die Markus-Passion von Reinhard Keiser (1674-1739).

Nach heutigem Stand der Forschung ist die Lukas-Passion, die im BWV die Nummer 246 erhalten hat und die entweder zu Karfreitag 1730 oder (erneut?) 1735 jeweils in der Nikolaikirche erklungen ist, in diese letzte Kategorie einzuordnen - es handelte sich demnach also um die Aufführung einer nicht von Bach selber komponierten Passionsmusik.
Dass die Lukas-Passion dennoch Eingang in das „ehrwürdige“ Bach-Werke-Verzeichnis gefunden hat und dort jetzt gleichberechtigt neben den großen und weltberühmten Passionsmusiken Bachs steht, ist darauf zurückzuführen, dass das Werk nur in einer Partiturabschrift vorliegt, die von Bach begonnen und von seinem Sohn Carl Philipp Emanuel (1714-88) fertiggestellt wurde.

Da es auf dem Titelblatt keine Autorenangabe gibt und die Partitur überdies die für Bach charakteristische Anrufung Christi „J. J.“ („Jesu juva“ = Jesus, hilf) trägt, hat man den Thomaskantor zeitweilig für den Komponisten des Werkes gehalten/ halten müssen, obwohl es schon früh Zweifler an seiner Autorschaft gab, wie z. B. den großen Bach-Verehrer und –Kenner Felix Mendelssohn (1809-47), den vor allem die Tatsache misstrauisch machte, dass die Partitur „zu reinlich“ sei und er deshalb vermutete, dass Bach das Ganze „nur“ abgeschrieben habe.

Wenn es auch weiter Zweifel an der Autorschaft Bachs an der Lukas-Passion gab und obendrein zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachgewiesen werden konnte, dass nicht Johann Sebastian, sondern wie erwähnt Carl Philipp Emanuel Bach einen nicht unerheblichen Teil der vorliegenden Partitur (ab)geschrieben hatte, so gelangte die Lukas-Passion dennoch - mangels eines Gegenbeweises, wer sie stattdessen komponiert haben könnte - im Jahr 1950 mit der Nummer 246 in das Bach-Werke-Verzeichnis von Wolfgang Schmieder. Das BWV hat sich mit seinen Nummerierungen im heutigen Musikleben längst ebenso durchgesetzt, wie die Nummern des Köchel-Verzeichnis für die Werke Mozarts.

Mittlerweile gibt es zahlreiche Theorien, wer der tatsächliche Komponist dieser Lukas-Passion gewesen sein könnte, so z. B. der zunächst in Karlsruhe und dann ab 1734 in Eisenach tätige Johann Melchior Molter (1696-1765), der in Bachs Geburtsstadt ebenfalls Kantaten und Passionsmusiken zu komponieren und aufzuführen hatte. Auch wenn viele stilistische Eigenheiten (auch der frei gedichteten Texte) dieser Lukas-Passion für deren Entstehung in Eisenach sprechen, fangen die Schwierigkeiten schon bei der zeitlichen Zuordnung an, da Molter 1730 ja noch nicht in Eisenach tätig war und Bach in diesem Jahr bereits eine Lukas-Passion in Leipzig aufführte.

Dass der große Thomaskantor nicht der Komponist dieser Passionsmusik sein kann, ist vielfach (und auch schon recht früh) angemerkt worden, da stilistisch zu große Unterschiede zwischen Bachs großen Passionsvertonungen (aber wohl auch der ungefähr zur selben Zeit entstandenen Kantaten) und der Lukas-Passion bestehen.

Man hat deshalb zeitweilig die Lukas-Passion für ein Frühwerk Bachs gehalten, das er in Leipzig wieder „reaktiviert“ hat (was gerade bei seinen Kantatenkompositionen häufiger vorkam), allerdings ist gerade der Kompositionsstil der (wenigen) Arien eher im damals gerade aufkommenden Tonfall des Stils der Empfindsamkeit gehalten, was darauf schließen lassen könnte, dass hierfür ein etwas jüngerer Komponist als Bach in Frage käme.

Die Lukas-Passion hat jedoch – auch ganz unabhängig von der leidigen Frage nach der musikalischen Autorschaft - ihren ganz eigenen Reiz: Die Musik ist weitaus weniger kunstvoll und kontrapunktisch gearbeitet als in den beiden „echten“ Bach-Passionen (aber macht sie das deshalb gleich schlechter, bzw. spricht diese Tatsache dann auch automatisch gegen Bach als Verfasser?) – es herrscht ein einfacher, prägnant-knapper, „volkstümlicher“ Tonfall vor, was allein schon durch die große Anzahl der in dieser Passionsmusik verwendeten Choralstrophen bedingt ist: Der Chor unterbricht in der Lukas-Passion die Erzählung des Evangelisten deutlich häufiger mit thematisch zum gerade Berichteten passenden Einwürfen aus (zur damaligen Zeit mit Sicherheit) bekannten Chorälen, als in den beiden berühmten Passionsberichtsvertonungen auf der Textgrundlage der Herren Matthäus und Johannes. An manchen Stellen hat der Evangelist keine zwei Sätze vorzutragen, ohne das nicht schon wieder eine weitere Choralstrophe eingeschoben wird!

Dies führt naturgemäß dazu, dass der Aufbau dieser Lukas-Passion im Vergleich zu diesen beiden anderen Passionsmusiken deutlich kleinteiliger ausfällt, nicht zuletzt auch deshalb, weil in der Lukas-Passion lediglich an 6 Stellen die Gesangssolisten Gelegenheit erhalten, eine Solo-Arie vorzutragen (und auch diese fallen deutlich knapper und liedhafter aus, als beispielsweise die zahlreichen großangelegten Solonummern in der Matthäus-Passion)!

Außerdem gibt es als Besonderheit noch ein Terzett (für Sopran I und II und Alt), in dem die Klage der Frauen, die Jesus auf seinem Weg nach Golgatha folgen, musikalisch ausgedrückt wird und das sich damit – obwohl es einen frei gedichteten Text hat – ungewöhnlicherweise in die übrige biblische Handlung integriert, statt diese (wie es eigentlich üblich wäre) bloß zu kommentieren.

Sehr schön ist auch die ausdrucksvoll-klagende, nur von den Holzbläsern (Oboen, Fagott) vorgetragene Sinfonia, die unmittelbar nach dem Tod Jesu erklingt und einen Choral umrahmt. In der folgenden Tenor-Arie werden einzelne Phrasen dieser Sinfonia dann noch mal aufgegriffen und dienen hier als Zwischenspiele – ein raffinierter Kunstgriff, den es in den beiden berühmten Bach-Passionen so nicht gibt, das muss man auch mal anmerken!

Im Ganzen erinnert mich diese Lukas-Passion musikalisch tatsächlich aber eher doch an Passionsmusiken von Bachs Zeitgenossen Georg Philipp Telemann (1681-1767) oder Reinhard Keiser.

Vertont wird in der Lukas-Passion das 22. und 23. Kapitel (bis auf dessen letzte drei Verse) des Lukas-Evangeliums. Wie in jedem der vier biblischen Passionsberichte gibt es auch bei Lukas einige Episoden, die in keinem der anderen Evangelien vorkommen, so z. B. die zeitweilige Überstellung des verhafteten Jesus an Herodes (Pilatus verfügt dies, weil Jesus als Herodes‘ Untertan in dessen „Zuständigkeitsbereich“ fällt) oder die Szene mit dem reuigen Verbrecher, der zusammen mit Jesus und einem weiteren Übeltäter gekreuzigt wird und dem Jesus die Zusage gibt “Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein!“.
Diese Liste ließe sich noch fortsetzen; hierzu gehören unter anderem auch noch die Gespräche, die Jesus bei Tisch unmittelbar nach der Abendmahlsszene mit seinen Jüngern führt, die töricht darüber streiten, wer unter ihnen denn nun der „Größte“ sei. Wegen dieser im Vergleich zu den Evangelienberichten von Markus und Matthäus doch deutlich längeren Abendmahlsszene setzt die Handlung in einigen anderen, kürzeren Vertonungen des Passionsberichts nach Lukas auch erst mit dem Gang zum Ölberg ein, so z. B. in der Lukas-Passion aus dem Jahr 1744 von Georg Philipp Telemann. In der in Bachs Handschrift überlieferten Lukas-Passion (BWV 246) wird hingegen der gesamte, recht umfangreiche Text der beiden Kapitel aus dem Lukas-Evangelium getreulich dargeboten, was dem Werk dann auch zu einer Aufführungsdauer von ungefähr 2 Stunden verhilft – das ist natürlich im Vergleich zur epischen Matthäus-Passion Bachs immer noch recht kurz…

Dass es im Moment lediglich 2 (!) Einspielungen dieser Lukas-Passion auf dem Markt gibt, hat mich dann doch etwas überrascht, muss ich gestehen! Allzu viel mehr auf Tonträgern festgehaltene Aufnahmen dieser Passion dürfte es meines Wissens bislang wohl auch nicht gegeben haben.

Da wäre zum einen die wohl in den (frühen?) 1990er Jahren entstandene Einspielung (ein konkretes Aufnahmedatum habe ich leider nicht finden können) mit der Balinger Kantorei und dem Kammerorchester des Collegium Musicum Tübingen unter der Leitung von Gerhard Rehm, die beim Label BRILLIANT Classics erschienen ist und wohl auch Bestandteil der dort herausgegebenen Bach-Gesamtausgabe war, die erstmals im Bach-Jubiläumsjahr 2000 erschienen sein müsste (andere Label, die ebenfalls solche Bach-Gesamtausgaben auf CD herausgegeben haben, verzichteten meines Wissens darauf, die wohl eher nicht von Bach komponierte Lukas-Passion in ihre Editionen aufzunehmen!).

Die an sich ganz akzeptable Aufnahme besitzt leider das nicht unerhebliche Manko, dass der Chor – im Gegensatz zu den Solisten – in deutlich hörbarer Distanz zu den Mikrofonen postiert wurde, was dazu führt, dass die Chorstellen immer etwas undeutlich und aus größerer Entfernung, umgeben vom Hall des Kirchenraumes, in dem die Aufnahme entstanden sein dürfte, rüberkommen, was gerade im Kontrast zu den wesentlich präsenter klingenden Solisten doch recht störend wirkt. Dass diese Konstellation zu Lasten der Textverständlichkeit geht, bleibt dabei leider nicht aus…
Ansonsten schlagen sich die Solisten, allen voran der für meinen Geschmack ab und an etwas zu larmoyante Georg Jelden (Tenor) als Evangelist und Ulrich Schaible (Bass) mit den Christusworten ganz ordentlich.

Ein insgesamt auch klangtechnisch wesentlich homogeneres und überzeugenderes Bild hinterlässt aber die bei cpo erschienene Einspielung der Lukas-Passion, die im Jahr 1996 entstand.

Unter der Leitung von Wolfgang Helbich singt das Alsfelder Vokalensemble, begleitet vom Barockorchester Bremen, das auch rhythmisch deutlich akzentuierter und prägnanter spielt als die oft etwas "weichgespült" klingenden Tübinger. Rufus Müller singt sehr stimmschön und textverständlich den Evangelisten, ebenso kann sich Stephan Schreckenberger als Christus hören lassen.
Es ist gut, dass mit dieser (noch dazu recht preisgünstigen) Aufnahme wenigstens eine durch und durch gelungene, klanglich überzeugende Einspielung dieser vernachlässigten Passionsmusik vorliegt!
Dass mir die Sopransolistin in dieser Aufnahme nicht so besonders zusagt, ist eigentlich nur eine Randbemerkung wert, da ihr Part eh nicht besonders umfangreich ausfällt. Im Vergleich punkten hier definitiv die beiden Sopranistinnen der Einspielung unter Gerhard Rehm.

Als Fazit zur Lukas-Passion kann man Folgendes feststellen:

Die Tatsache, dass niemand Geringerer als Bach selbst diese Passionsmusik offenbar für so gelungen hielt, dass er sie gleich mehrfach in Leipzig zur Aufführung brachte (und die jährlichen Aufführungen der Passionsmusiken am Karfreitag dürften einen hohen Stellenwert für den Thomaskantor gehabt haben!), sollte jedenfalls auch in der heutigen Zeit dazu beitragen, dass die Lukas-Passion, von wem auch immer sie stammen mag, einen würdigen Platz im Repertoire erhält. Schließlich kann dieses Werk nichts dafür, dass man es „klammheimlich“ und womöglich gar mit „betrügerischer Absicht“ (um es mal ironisch zu formulieren) als Komposition des berühmten Johann Sebastian Bach auszugeben versucht hat – das lag nun wirklich allein an den etwas unglücklichen Umständen seiner Überlieferung. Aber es deswegen jetzt quasi zu „bestrafen“ und mit einer Mischung aus Naserümpfen und einer gewissen Missachtung regelmäßig links liegen zu lassen, das hat diese Komposition nun wirklich nicht verdient!

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