Samstag, 19. April 2014

Nachträge

Heute möchte ich wieder mal die Gelegenheit nutzen, ein paar Nachträge zu älteren Beiträgen zu liefern – ab und an ist das einfach mal notwendig (siehe zum Beispiel hier), weil zwischenzeitlich Neuerscheinungen oder Wiederveröffentlichungen interessante Ergänzungen zu bereits beschriebenen und empfohlenen Aufnahmen bieten.

Passend zur Karwoche und der untrennbar damit verbundenen Hochsaison für Passionsmusiken ist kürzlich eine neue Einspielung der selten zu hörenden Markus-Passion (BWV 247) von Johann Sebastian Bach beim Label RONDEAU erschienen.

Zum wirklich spannenden Rekonstruktionsprozess dieser lediglich in der Theorie existierenden Komposition des berühmten Leipziger Thomaskantors hatte ich ja bereits im vergangenen Jahr eine ganze Reihe von Beiträgen geschrieben, so dass ich diese Ende März 2013 in St. Anna in Twistringen entstandene neueste Ergänzung zu diesem Thema nicht unerwähnt lassen wollte.

Es handelt sich um eine Aufnahme der Rekonstruktionsversion, die der britische Musikwissenschaftler Simon Heighes im Jahr 1995 vorgenommen hat und die sich – wie viele weitere Rekonstruktionen dieser geheimnisvollen Passion – zunächst auf die Erkenntnisse des Musikwissenschaftlers Diethard Hellmann aus dem Jahr 1964 stützt. Dieser hatte eine Reihe von möglichen musikalischen Vorlagen identifiziert, die Bach benutzt haben könnte, um im für ihn recht häufig praktizierten sogenannten „Parodieverfahren“ aus Arien weltlicher Gelegenheitskantaten (meist Trauer- oder Glückwunschkantaten für fürstliche Auftraggeber) dauerhaft verwendbare Gesangsstücke für geistliche Werke zu gewinnen (sein Weihnachtsoratorium dürfte hierfür wohl das bekannteste Beispiel sein!).

Entscheidender Knackpunkt für sämtliche Rekonstruktionsversuche der verloren gegangenen Partitur der Markus-Passion ist allerdings das vollständige Fehlen der Evangelisten-Rezitative, in denen die biblische Passionsgeschichte vorgetragen wird. Wer sich z. B. die Matthäus-Passion zum Vergleich ins Gedächtnis ruft, weiß, dass damit ein nicht unerheblicher Teil der gesamten Passionsmusik fehlt, zumal die Markus-Passion bei Weitem nicht so viele Arien enthält, wie die erwähnte Matthäus-Passion – dies lässt sich aus dem erhalten gebliebenen Textbuch ersehen.

Während viele seiner Kollegen hier ganz unterschiedliche Lösungen für dieses Problem gefunden haben (bis hin zur Neukomposition der fehlenden Rezitative im Stil des 20. Jahrhunderts!), wählte Simon Heighes einen ziemlich naheliegenden Ansatz – er verwendete die Evangelisten-Rezitative aus der um das Jahr 1717 entstandenen Markus-Passion des in Hamburg tätigen Bach-Zeitgenossen Reinhard Keiser (1674-1739), was insofern kein Problem darstellt, da hier wie da der entsprechende Text aus der Lutherbibel (Markus-Evangelium, Kapitel 14 und 15) wörtlich übernommen wird.

Der Clou an gerade dieser Passionsmusik ist jedoch, dass sie Bach nicht nur bekannt war (sie existiert in einer eigenhändig angefertigten Abschrift Bachs), sondern er dieses Werk nachweislich auch in Leipzig zur Aufführung gebracht hat! Somit ist diese Vertonung, die von Bach ja nun offensichtlich sehr geschätzt wurde, sicherlich „würdig“ genug, um ergänzendes Material für die zu rekonstruierende Markus-Passion Bachs zu liefern…

Da die Handlung in der Keiser’schen Markus-Passion leider erst mit dem Gang zum Ölberg beginnt, die Bach’sche hingegen (wie schon die Matthäus-Passion) bereits mit der Salbung in Bethanien und dem letzten Abendmahl, musste Simon Heighes die nun immer noch fehlenden Rezitative notgedrungen selber im Stil Keisers (und irgendwie ja auch Bachs) selber komponieren, was ihm wirklich gut gelungen ist – wenn man es nicht wüsste, würde man nicht merken, wann die Original-Musik aus dem 18. Jahrhundert beginnt!

Die einzige, bislang erhältliche Aufnahme dieser Fassung der Markus-Passion war (und ist) beim Label BRILLIANT erhältlich: Eine unter der Leitung von Roy Goodman vermutlich irgendwann Ende der 1990er Jahre (Angaben hierzu gibt es leider keine) entstandene Einspielung, die an sich gar nicht so übel ist, wenn sie nicht daran kranken würde, dass sämtliche Sänger (Knabensopran und Altist ersetzen die Damenstimmen) britischer bzw. finnischer Herkunft sind und sich häufig hörbar schwer tun mit der deutschen Sprache und damit einhergehend dann auch mit der Vermittlung des gerade vorgetragenen Geschehens.

So gesehen ist die nun unter der Leitung von Jörg Breiding erschienene Neueinspielung mit dem Knabenchor Hannover und der Hannoverschen Hofkapelle eine willkommene Alternative (vom gewählten Grundtempo her übrigens eine Nuance langsamer als die Goodman-Aufnahme):
Alle Beteiligten (die Sopran- und Altpartie werden hier von Sängerinnen übernommen) singen wirklich ausgesprochen klangschön und gut verständlich!

Hinzu kommt die akustische Komponente: Der Kirchenraum, in dem die Aufnahme entstand, hat einen gewissen Hall, der aber nie so übermäßig ist, dass die Textverständlichkeit darunter leiden würde.
Im Gegenteil: Ich finde den so festgehaltenen Kirchenraumklang ausgesprochen stimmungsvoll – es entsteht eine kirchlich-feierliche Atmosphäre, die einer Passionsmusik ja durchaus angemessen und mir definitiv lieber ist, als eine allzu trocken und steril wirkende Studioakustik, die klingt, als würden alle Musiker und Sänger in einem kleinen Zimmerchen zusammengepfercht beieinander stehen (das ist auch ein Punkt, der mich an der Aufnahme unter Roy Goodman etwas stört)!

Alles in allem also eine wirklich gelungene Bereicherung der nach wie vor eher schmalen Markus-Passions-Diskographie!

In dem Zusammenhang habe ich zufällig entdeckt, dass die im Bach-Jahr 2000 erschienene Version der Markus-Passion von Ton Koopman, von der ich im letzten Jahr nicht sicher war, ob sie überhaupt noch im Handel erhältlich ist, offenbar im Herbst 2013 zum Budget-Preis neu aufgelegt wurde!

Mit Sicherheit ohne ausführliches Textheft, was aber bei der gut verständlichen Aussprache aller an dieser Aufnahme Beteiligten auch nicht unbedingt nötig ist, aber dafür eine wirklich (preis-)günstige Gelegenheit, sich auch mit dieser interessanten Version der phantomhaften Markus-Passion Johann Sebastian Bachs vertraut zu machen!

In meinem Beitrag über den Besuch der konzertanten Kölner Aufführung von Leonardo Vincis sensationeller Opera seria Artaserse im Dezember 2012 hatte ich ja bedauert, dass die Sänger leider ohne die nur als Fotos im Programmheft zu bewundernden aufwendigen Kostüme aufgetreten waren, die sie zuvor im Rahmen einiger szenischer Vorstellungen in Frankreich getragen hatten.

Nun, mittlerweile wurde mein Wunsch, diese auch einmal sehen zu können, dahingehend befriedigt, dass kürzlich eine Doppel-DVD mit der Aufzeichnung einer dieser szenischen Aufführungen erschienen ist: So sehr ich die musikalische Komponente gerade bei einer Oper wie dieser in den Vordergrund stellen würde (weshalb die lediglich konzertante Aufführung in Köln nun auch alles andere als eine Enttäuschung war!!), so sehr muss ich aber auch sagen, dass das Element der schrill-fantastischen, von Rokoko-Opernkostümen deutlich inspirierten Gewandungen der reinen Sänger-Riege dem Ganzen noch einmal ein zusätzliches Element des Faszinierenden, Artifiziellen und Besonderen hinzufügt und den heutigen Betrachter noch ein wenig mehr in die kunstvolle Welt der Barockoper eintauchen lässt!

So kann man – neben der Faszination des Klangs dieser übernatürlich hohen Männerstimmen – als heutiger Zuhörer (und nun eben auch als Zuschauer) jetzt auch anhand der ausladenden, federgeschmückten Roben und Reifröcke, Hüte und Perücken noch ein wenig mehr von dem großen Erfolg der Barockoper beim damaligen Publikum erahnen und nachvollziehen!

Eine ausgesprochen sehens- und natürlich auch hörenswerte DVD!

In diesem Sinne wünsche ich allen Leserinnen und Lesern schöne Ostertage!
Sowohl gestern als auch heute begleitet mich in diesem Jahr übrigens wieder einmal Dvoraks wunderbares Stabat Mater durch den Karfreitag und Karsamstag – ich kann von diesem Werk einfach nicht genug bekommen!